Bereits im Juli wurde bekannt, dass die bayerische Polizei für Ermittlungen auf die Adresslisten von Gastronomen zurückgreift. Nur bei schweren Straftaten und Notfällen, hieß es damals vom Innenministerium. Doch das stimmte nicht.
In der Debatte über die Verwendung von Corona-Gästelisten aus der Gastronomie für polizeiliche Zwecke liegen neue Daten vor. Mitte Juli war bekannt geworden, dass in Bayern in mindestens zehn Fällen auf Daten, die beim Besuch eines Lokals angegeben werden müssen und die eigentlich zur Verfolgung möglicher Infektionsketten gedacht sind, für Ermittlungen zugegriffen wurde.
Nach Kritik daran hatte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) betont, der Bürger erwarte, dass die Polizei im Rahmen der Rechtsordnung alles zu seinem Schutz unternehme und „nicht unter dem Deckmäntelchen eines falsch verstandenen Datenschutzes die Hände in den Schoß legt“. Die Rede war damals von schweren Straftaten und Notfällen als Anlass. Detaillierte Angaben des Ministeriums zeigen, dass es sich (bis zu einem Stichtag Ende Juli) um zwei Dutzend Fälle handelte – darunter auch Delikte, die eher als Kleinkriminalität zu werten sind.
Das Innenministerium äußerte sich auf eine Anfrage des FDP-Fraktionsvorsitzenden Martin Hagen, die Antwort liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Demnach ist es bei insgesamt 24 Zugriffen auf die Gaststättenlisten um „repressive“ wie auch „präventiv-polizeiliche“ Verfahren gegangen. Sie betreffen nahezu alle Regionen im Freistaat, Schwerpunkte sind jedoch die Zuständigkeitsbereiche der beiden Polizeipräsiden München und Oberbayern Süd (mit Sitz in Rosenheim) – mit zusammen der Hälfte der zwei Dutzend Fälle.
Eine Datennutzung ging vom Landeskriminalamt aus, hier ging es um bandenmäßigen Drogenhandel. Neben Mord und Totschlag, schwerem Raub oder gefährlicher Körperverletzung finden sich in der Liste durchaus weniger gravierende Straftaten: wie Beleidigung, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort und Diebstahl. Drei Fälle betrafen Vermisstensuchen. Strafverfahren wurde bis Ende Juli keine eingeleitet. Das Ministerium betont die „Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“, eine Benachrichtigungspflicht jener Gäste, deren Daten man einsah, bestehe nicht.
Auch in anderen Bundesländern wurden solche Zugriffe bekannt
FDP-Mann Hagen sieht seinen damaligen Verdacht bestätigt: Der Zugriff auf die Gästedaten sei eben nicht nur in Ausnahmefällen besonders schwerer Kriminalität erfolgt, sondern etwa auch bei Fahrerflucht; zudem seien laut Antwort Daten Unbeteiligter erhoben und gespeichert worden. „Ich halte das für hochproblematisch. Diese Gästelisten wurden ausschließlich zur Pandemiebekämpfung eingeführt. Eine Zweckentfremdung zerstört das Vertrauen der Bürger in staatliches Handeln und die Akzeptanz für die Corona-Regeln.“
Auch in anderen Bundesländern waren polizeilichen Zugriffe auf solche Daten bekannt geworden. In Bayern zeigten sich im Juli Vertreter aller Oppositionsparteien empört. „Eine Herausgabe ohne richterlichen Beschluss ist rechtlich nicht zu verantworten“, teilte etwa der SPD-Abgeordnete Florian Ritter mit. Der oberbayerische AfD-Bezirksvorsitzende Wolfgang Wiehle meinte dazu: „Datenschutzrechtlich sauber? Wohl kaum. Politisch skandalös? Auf jeden Fall.“
Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze plädierte für bundeseinheitliche Regeln mit Begleitgesetz – um Klarheit zu schaffen, dass Daten „nicht willkürlich, sondern nur zu explizit definierten Ermittlungszwecken verwendet werden dürfen“. Hagen mahnte, Zweckentfremdung verleite Bürger zu bewusst falschen Angaben: „Wenn künftig nur noch Max Mustermann und Micky Maus im Restaurant einchecken, wird die Nachverfolgung von Infektionsketten unmöglich.“
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